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Der Stier von Kadıköy

Schnaubend senkt er den Kopf, scharrt mit einem Vorderhuf und holt mit seinem Schwanz zu einem energischen Peitschenschlag aus – geballte Energie, jederzeit bereit loszustürmen. Der Stier von Kadıköy! Seit 1987 steht er mitten auf der Altıyol, der großen zentralen Kreuzung im Geschäfts- und Ausgehviertel Kadıköy. Die lebensgroße, naturalistische Skulptur aus Bronze ist für die Kadıköyer inzwischen so etwas wie das Wappentier ihres Stadtteils geworden.

Die Stierskulptur im Istanbuler Stadtteil Kadiköy

Bronzene Stierskulptur auf der Kreuzung Altıyol ("sechs Wege") im Istanbuler Stadtteil Kadıköy, 11. Oktober 2012
© 2012 by Dieter Löffler

Darüber, wie der Stier hierher kam, gibt es zwei sich widersprechende Versionen. Beide beginnen jedoch vor 151 Jahren in Paris beim Bildhauer Isidore Bonheur, der die Skulptur 1864 goss und seine Signatur darin verewigte. Die eine der Geschichten führt durch die zeitgeschichtlichen Wirren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie macht einen kleinen Umweg über das Deutsche Kaiserreich und schweift in die griechische Mythologie ab. Die zweite Version ist relativ banal und diese kurze Fassung fängt mit Sultan Abdülaziz an.

Abdülaziz war der erste Sultan, der nach Westeuropa reiste und dabei gleich noch die Weltausstellung von 1867 in Paris besuchte. Dort fielen ihm angeblich die Skulpturen Bonheurs ins Auge und er bestellte 24 lebensgroße bronzene Tierfiguren, darunter auch zwei Stiere. Die Skulpturen wurden nach Istanbul geliefert und immer mal wieder an anderen Orten aufgestellt. Letztlich landete der eine in Kadıköy auf der Altıyol, wo er heute den Verkehr dirigiert. Der andere tobt sich im Garten des Beylerbeyi-Palastes aus, eine der Sommerresidenzen von Abdülaziz am asiatischen Ufer des Bosporus, die heute im Schatten der ersten Bosporusbrücke steht.

Der längeren Geschichte zufolge war der Kadıköy-Stier ursprünglich irgendwo in Elsass-Lothringen aufgestellt worden, nachdem er die Werkstätte von Meister Bonheur verlassen hatte. Die Niederlage der Franzosen gegen die Deutschen im Krieg von 1870/71 führte zur Annektierung von Elsass-Lothringen durch das frisch ausgerufene Deutsche Kaiserreich und zum Abtransport unter anderem des Stiers nach Berlin als Kriegsbeute.

Kaiser Wilhelm II. schenkte den Stier dann während des Ersten Weltkriegs 1917 entweder Sultan Mehmed V. oder Enver Pascha – auch hier zwei Versionen. Der Sultan war zu jener Zeit nur noch ein machtloses Aushängeschild des herrschenden jungtürkischen Triumvirats der Paschas Talât, Cemal und Enver. Enver Pascha war Kriegsminister und damit während des Ersten Weltkriegs faktisch mächtigster Mann im Osmanischen Reich.

Dieser Geschichte zufolge wurde der Stier nach seiner Ankunft In Istanbul als Erstes im Garten des Beylerbeyi-Palastes aufgestellt, um dann in den folgenden 70 Jahren eine Odyssee mit Aufstellungsorten in den verschiedensten Vierteln Istanbuls durchzumachen. Bis er 1987 schließlich auf der Altıyol in Kadıköy landete.

Mit dieser zweiten Geschichte ist auch eine Erzählung über den Symbolgehalt des stierischen Geschenks verbunden. Einige Türken sehen in dem Stier Zeus und assoziieren dazu die Geschichte seiner Liebelei mit Io, der Tochter des Flussgottes Inachos. Hera, die Gattin von Zeus, bemerkte seine schmachtenden Blicke und erfuhr von seinem Plan, Io in eine Kuh zu verwandeln und zu entführen. Um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, forderte sie von Zeus die Kuh als Geschenk. Dem Allmächtigen blieb nicht viel anderes übrig, als diesem Wunsch seiner Göttergattin zuerst einmal nachzukommen, auch wenn er Io anschließend gleich wieder befreien ließ. Hera hetzte der flüchtenden Io, die noch immer in Gestalt einer Kuh unterwegs war, eine von Kühen panisch gefürchtete Rinderbremse hinterher, die sie quer durch die Welt jagte. Auf ihrer Flucht überquerte Io unter anderem die Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer, die aufgrund dieses Ereignisses den griechischen Namen "Rinderfurt" (=Βόσπορος = Bosporus) erhalten haben soll.